Manfred Jelinski

Kapitel 8:
DIE GNADE DER GEWÖHNLICHKEIT

Ausgehend von unseren eigenen Erlebnissen begann ich mich im Spätsommer 1997 verstärkt dafür zu interessieren, wie schwierig oder vielleicht sogar einfach es sein möge, Remote Viewing mit jedem beliebigen Menschen durchzuführen.
Wenn es so gut bei meiner Frau und mir geklappte hatte, (und wir halten uns immer noch für nichts Besonderes), was war dann mit dem Rest der Menschheit.
Was heißt beispielsweise Begabung?
Die Testserien im Gehirnforschungslabor von Günther Haffelder hatten uns vermittelt, daß es eigentlich nur auf den Einsatz einer bestimmten Technik ankam. War es nebensächlich, wen man mit dieser Methode arbeiten ließ?
Ich beschloß, die Erkundung dieses Phänomens selbst in die Hand zu nehmen. Also schaute ich mich nach geeigneten Opfern um. In unserer Videoproduktionsfirma nehmen wir gelegentlich auch Praktikanten auf. Zum Herbstbeginn 97 war es rein zufällig eine junge Frau namens Barbara, die mich auf einem Filmseminar, das ich Anfang des Jahres in Osnabrück abgehalten hatte, angesprochen hatte. Ich überredete sie zu einem Test. Am 30. September machte ich ein paar Vorübungen mit ihr und ließ sie dann eine etwas vereinfachte Version des Coordinate Remote Viewing Protokolls abarbeiten.
Target war die Postkarte des deutschen Segelschulschiffs "Gorch Fock", die ich zuvor, wie üblich, in einen undurchsichtigen Umschlag versenkte.
Das Ergebnis war mehr als erstaunlich. Sie zeichnete einen hellen, bootsähnlichen Körper, in dem mehrere Stangen steckten, von denen einige auch noch quer angebracht waren. Zusätzlich erklärte sie noch das Vorhandensein von Metalldrähten und den natürlichen Energie- Antriebsaspekt. Die Perspektive, die sie bereits in Stage drei aufzeichnete, glich der auf der Postkarte so sehr, daß ich schon erschrocken den Test abbrechen wollte. Sie aber fuhr fort mit ihrer Beschreibung.
Jetzt erläuterte sie mir die Umgebung. Offenbar stand sie wie der damalige Fotograf auf einer Barkasse, umgeben von anderen Schaulustigen, kreischenden Kindern und dem Geräusch des Schiffsmotors. Ich war baff und sie auch, als sie das Bild aus dem Umschlag zog. Natürlich hatte sie keine Ahnung, was sie da beschrieben hatte, aber alle Angaben waren zutreffend. 100% richtig, könnte man jetzt sagen, eine verstörende Aussage, mit der sich auch Ed Dames schon eine Menge Unglauben und Ärger eingehandelt hatte. Diese Erfahrungen schienen fortan alle meine Aktivitäten im Umgang mit dieser PSI- Methode zu begleiten, aber ich wußte ja schon, da war ich nicht allein.
Remote Viewing scheint seit seinem Auftauchen für die konservative Wissenschaft ein hochexplosives Delikt zu sein und die Lager zu spalten. Alteingesessene Psi- Forscher betrachten die Berichte aus USA über die Treffersicherheit und den Detailreichtum der bekanntgewordenen Sessions mit Grausen. Dr. Elmar Gruber, selbst Forscher und Autor, schreibt in seinem Buch "Die PSI- Protokolle", in dem er auch auf Remote Viewing eingeht: "die Skeptiker hielten es für angebracht, die Augen vor allzu schlagenden Beweisen zu verschließen."
Dieser Vorgang macht auch vor Dr. Gruber selbst nicht halt. Sein Verhältnis zu dieser neuen PSI- Methode erweist sich als ein sehr ambivalentes. In seinen jahrelangen Studien hatte er immer auf den Standpunkt hingewiesen, PSI- Forschung sei die "vorurteilsfreie Erkundung von anomalen mentalen Phänomenen mit den herkömmlichen Methoden der Wissenschaft". Nun erwies sich das Phänomen als weder anomal noch nur wenigen "auserwählten" Menschen vorbehalten. Jetzt wurde es schwer, vorurteilsfrei weiter zu erkunden.
Einerseits führt Dr. Gruber in seinem Buch mit Begeisterung alle in den Publikationen der amerikanischen Remote Viewer dargestellten "Erfolge" auf und will damit beweisen, daß sein Studiengebiet PSI durchaus etwas Neues zu bieten hat. Andererseits bestreitet er harsch den Umstand, daß Remote Viewing von jedermann gelernt werden kann.
Hier muß man auch etwas genauer differenzieren. So, wie es sich mir dargestellt hat, kann Remote Viewing tatsächlich nicht gelernt werden, es wird nur trainiert. Was gelernt werden muß, ist das zu verwendende Protokoll und der Umgang damit. Ansonsten scheint Remote Viewing die Ausübung einer natürlichen menschlichen wie auch tierischen PSI- Fähigkeit zu sein. Was aber wiederum bedeutet, daß diese Gabe nicht anomal ist.
Die auch von McMoneagle gern genannte Untersuchung des SRI, wonach ca. 1% der Menschheit besonders "begabt" ist, wird aber auch von Gruber zitiert. Er kommt folglich zu dem Schluß, daß 1% nicht etwa ein vernachlässigbar kleiner Teil der Menschheit sei, sondern, wenn man die Population Chinas betrachtet, hier schon die stattliche Summe von mehr als zehn Millionen außergewöhnlich PSI- Begabter erhält. Nimmt man die gesamte Weltbevölkerung so bleibt immerhin fast die Einwohnerzahl der Bundesrepublik Deutschland übrig. Man stelle sich das vor: 60- 80 Millionen PSI- Agenten!
Nun geht die PSI- Studie des SRI aber noch einen Schritt weiter, der eigentlich noch interessanter aber genauso gern am liebsten unterdrückt wird. Kurz gesagt, sie beschreibt den Umstand, daß es sich bei diesem einen Prozent nicht um eine abgegrenzte, isolierte Menschengruppe handelt, sondern eine willkürliche Einteilung in fließenden Übergängen. Man könnte das Ergebnis der Studie aber auch so zitieren: 50% Prozent aller Menschen können halb so gute Ergebnisse bringen wie die "Begabtesten" unter uns. Und das ist, wenn eine protokollarische Technik wie Remote Viewing im Spiel ist, meistens besser, weil exakter, als ein natürliches Medium ohne technische Stütze.
Das ist natürlich eine umwälzende Erkenntnis und das plötzliche Auftauchen der fertigen Methode geht den PSI- Forschern viel zu schnell. So ist auch zu verstehen, wenn Gruber die Anbieter von Remote Viewing Trainings für unseriös einstuft. Schlitzohrig, aber platt macht er diese Kritik an dem Preis einer solchen Ausbildung fest, wohl wissend, daß Schulungsseminare der Wirtschaft nicht nur für Spitzenmanager und Großverdiener ganz andere Größenordnungen erreichen. Das Ergebnis dieser RV-Ausbildungen spricht aber für sich. Nach meinen Erkenntnisse gab es bisher keinen, der Remote Viewing nicht praktizieren konnte. Diejenigen, die es nicht besonders gut konnten, waren ein sehr kleiner Prozentsatz. Womit wir wieder bei der Statistik des SRI wären, die sich auch in meiner Erfahrung niederschlug.
Deshalb ist die weitere Entwicklung auf dem Sektor PSI- Methoden auch leicht absehbar. Die jetzt plötzlich im Regen stehengelassenen "alten" PSI- Forscher werden Remote Viewing für sich neu erfinden, um es dann als eine wissenschaftliche Methode zu präsentieren, die selbstverständlich auch von vielen Menschen angewandt werden kann, denn Geschäft ist auch hier Geschäft, das darf man nicht vergessen. Ansätze dazu zeigt Dr. Elmar Gruber in seinen "PSI- Protokollen schon ganz eindeutig. Er beschreibt die Experimente des klinischen Psychologen James Carpenter. Dieser verwendet Kodierungs- praktiken wie es die Digitalisierung mit 0 und 1 macht und benutzt diese im Zusammenhang mit dem Morsealphabet. Dabei stellte er fest, daß sich bei geeigneter Auswahl der Probanden eine "Übertragungsqualität" von PSI- Informationen von bis zu 100% erreichen läßt.
Genau diese Aussage hatte Dr. Gruber aber einige Seiten vorher Ed Dames als "Unsinn" vorgeworfen. Auf Carpenter jedoch setzt er große Hoffnungen: "Möglicherweise kann man aus einer Mischung des Carpenter- Ansatzes mit RV nach der Konsens- Technik eine Vorgangsweise entwickeln, die in abgegrenzten Bereichen die Anwendung von anomaler Kognition praktikabel macht."
Jeder, der sich ein bißchen in dieses Thema eingelesen hat, weiß, wo das hinführt: zu einer Art Remote- Viewing Methode wie sie als TRV oder vergleichsweisen Spielarten bereits existieren und gelehrt werden. Gerade die Aspekte über kognitives Rauschen sind Bestandteile der praktischen Anwendung von TRV: daß das Zusammenfassen der Daten mehrerer guter Viewer das Endergebnis optimiert, ist längst der Alltag dieser Methode und genau darauf basieren die ungewöhnlich hohen Erfolgsversprechen mancher Remote Viewing- Dienstleistungsfirmen. Und eine "wissenschaftliche" Methode ist jeder Ableger des ursprünglichen Coordinate Remote Viewing ohnehin schon.
Wie man also sieht, war die PSI- Forschung weltweit vom Erscheinen des Remote Viewing überrumpelt. Die Informationspolitik des CIA, die bereits 1973 mit jener Pressekonferenz begann, als man erklärte, man habe keine PSI- Erfolge vorzuweisen, hat Früchte getragen. Analog zu den "grünen Männchen" im Bereich UFOs versah man das Thema außersinnliche Wahrnehmung mit dem "Kicher- Effekt". Wer sich ernsthaft dazu äußerte, machte sich lächerlich. Insgeheim aber arbeitete man daran, einfachen, abkommandierten GI`s die PSI- Spionage beizubringen. Wie gut das tatsächlich funktionierte, läßt sich nur erahnen, denn die meisten Akten aus dieser Zeit sind immer noch geheim und alle beteiligten Viewer verweisen (auch mir gegenüber persönlich) auf ihre Schweigepflicht.
Sicher ist jedoch, daß mindestens einige der Führungspersönlichkeiten des Army- Projektes in Fort Meade in Remote Viewing ausgebildet worden sind. Namentlich dazu bekannt haben sich, natürlich nach ihrem Ausscheiden aus dem Dienst General Thompson, General Stubblebine und Dale Graff.
General Thompson war Ende der 70er Jahre Chef des Systems Exploitation Teams in Fort Meade und wollte selbst herausfinden, was es mit diesem Remote Viewing auf sich hatte. Er ließ sich von Mel Riley in die Technik einführen und schickte Major Stone, einen seiner Stabsoffiziere, nach "draußen", zu einem Ort, den Thompson beschreiben sollte. Der Test ging zunächst recht unbefriedigend aus, weil Thompson ein großes, klotziges Gebäude beschrieb und einen Teich in der Nähe. Major Stone war aber am Alexandria Bahnhof gewesen. Später stellte sich heraus, daß Thompsons Unterbewußtsein sich auf den Masonic- Freimaurertempel in der Nähe konzentriert hatte, der mit seiner Größe die Skyline dominierte und auch einen Teich besaß. Als Thompson einige Wochen später das Gelände überflog, war seinen Angaben nach wie ein Déjà- Vu- Erlebnis. Er erkannte, daß er in den interessantesten Aspekt der Gegend "gerutscht" war, und das war der Tempel, der gegenüber dem im Kolonialstil errichteten alten Bahnhof viel eher die Aufmerksamkeit einfing.
Auch General Stubblebine, Leiter der Einheit in den achtziger Jahren und Mitglied des Vorstandes von PSI TECH Anfang der neunziger Jahre, betrieb selbst Remote Viewing. In seiner Rede vom 22. 5. 1992 auf einem Symposium der International Association for New Science, Denver, beschrieb er sich selbst als nicht medial veranlagten, nicht RV- trainierten Normalbürger. Dennoch habe er erfolgreich in einem PSI- TECH- Projekt mitgewirkt, das die Situation in und um den Irak vor dem (ersten) Golfkrieg ergründen sollte, und er beschreibt sein Erstaunen, als er klar einen riesigen Flächenbrand in Kuweit visualisierte. Das Prekäre der folgenden Analyse war, daß man aufgrund der Daten auf einen Waldbrand schloß, was in Kuweit natürlich nicht möglich ist. Deshalb legte man diese Session auch erst einmal ungläubig zur Seite. Zum Erstaunen aller, gab es dann diesen "Waldbrand", nur waren es nicht hochaufragende Stämme, die brannten, sondern Ölfontänen.
Stubblebine wie auch der spätere Leiter des Projekts "Stargate", Dale Graff, heben hervor, daß das wichtigste Resultat ihrer Arbeit die Erkenntnis war, daß jeder Mensch parapsychologische Fähigkeiten habe und sie durch bestimmte Programme entwickeln könne. Graff nahm daran selbst teil und gibt dazu sogar eine fast 50- seitige Anleitung in seinem Buch "Tracks in the Psychic Wilderness".
Auch andere Privatpersonen, die nicht im Dienste der Armee standen und zunächst aus eigenem Antrieb den Mund hielten, wurden noch während der Laufzeit von Projekt Stargate in Remote Viewing ausgebildet, manche sogar noch früher.
Wir finden hier also eine illustre Gesellschaft von "Unbegabten", die Remote Viewing "konnten", obwohl dies nach immernoch bestehenden Aussagen der PSI- Forscher eigentlich nicht sein dürfte. Ihre Einstufungen der Richtigkeit der gewonnenen Informationen liegt bei 85- 95 Prozent.
Spätestens Ende der achtziger Jahre mußte jedem Beteiligten klar sein, daß man hier eine Methode entwickelt hatte, mit der man (fast) jeden Menschen zum PSI- Spion ausbilden konnte. Es ist nach dem Studium der bisher veröffentlichten Aussagen der damals Beteiligten nicht klar, ob die erstaunlichen Erfolge durch die Erkenntnisse der Gehirnforschung so hinreichend erklärt waren, daß man die Konsequenzen hätte ziehen können, die sich schon 1996/97 den deutschen Remote Viewern anboten. Ich persönlich kam zu dem Schluß, daß man nur vermutete. Alle Bücher von "Ehemaligen" drücken sich in ihren wissenschaftlichen Hintergrundbetrachtungen, gelinde gesagt, sehr unscharf aus. Nun muß ich zugeben, daß auch ich anfangs ziemlich im Ungewissen schwamm, genau bis zu dem Moment, bis ich den ersten Blick auf Günther Haffelders Fast Fourier Darstellung der Tätigkeit beider Gehirnhälften werfen durfte. Danach rollte die Lawine talabwärts, sozusagen.
Während der Produktion des dritten Videos über Remote Viewing "Erkenntnisse aus dem Unsichtbaren" kam ich auf den Gedanken, daß dies alles, wenn es sich wirklich so verhalten sollte, auch vor laufender Kamera dargestellt werden konnte. Wenn es nicht klappte, mußte man diese Aufnahmen nicht in das Video nehmen, sagte ich mir im Stillen. Würde ja keiner erfahren, wenn ich mich geirrt hatte...
Aber, wie sollte es auch anders sein bei diesem verflixten Remote Viewing, natürlich klappte es, und zwar so gut, daß uns wieder mal ein kalter Schauder über den Rücken lief.